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Die Digitalisierung wirkt sich auf nahezu alle unsere Lebensbereiche aus. Sie verändert nicht nur die Art, wie wir arbeiten, sondern auch, wie wir lernen und uns Wissen aneignen. Schulen als zentrale Bildungsinstitutionen müssen diese gravierenden Transformationen berücksichtigen. Vor allem eine Kompetenz muss im Zeitalter der Digitalität, in der jeder ungefiltert Informationen verbreiten kann, verstärkt in den Fokus rücken: die Fähigkeit, kritisch zu denken.
Dies ist die Fortsetzung des Interviews aus Episode 48 mit Lisa Rosa. Sie war 20 Jahre Lehrerin für Musik, Politik und Geschichte und ist heute als Lehrerfortbilderin im Landesinstitut für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung Hamburg tätig.
Im ersten Teil dieses Interviews wurde das Digitale als das neues Leitmedium vorgestellt und Rosa erwähnte die vergangenen vergleichbaren Kulturumbrüchen der Menschheitsgeschichte. Jetzt erfahren wir, wie die Gesellschaft in früheren Epochen mit den durch die neuen Medientechnologien ausgelösten Umwälzungen umgegangen ist und wie sich Lernen, Lehren und Lebensweise verändern könnten.
Die Welt wird komplexer, also müssen wir selbst komplexer werden
Eine der großen Herausforderungen, die vielen Menschen heutzutage Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass die Welt zunehmend komplexer und unübersichtlicher wird. Für Rosa lautet die Antwort auf die voranschreitende Komplexität der Welt, dass wir selbst in unserem Denken und Tun komplexer werden müssen. Auch das sei nichts Neues. Laut Rosa sei die Welt, ja das Universum, von Beginn an immer komplexer – und vor allem irreversibel komplexer – geworden. Hierauf habe der Mensch auch in früheren Epochen immer mit mehr innerer Komplexität reagiert. Sie nennt ein Beispiel:
In der Antike und im Mittelalter konnten nur wenige Menschen schreiben, die bestimmte Funktionen ausfüllten. In der Zeit des Feudalismus waren das etwa die Möche, die dafür sorgten, dass die Ideen der christlichen Religion verbreitet wurden. Die übrigen 99 Prozent der Bevölkerung konnten nicht schreiben – und das war auch gar nicht notwendig. Das änderte sich erst mit Anbruch der Industrialisierung. Als immer mehr Menschen in Fabriken arbeiteten, mussten Arbeitsabläufe und Anweisungen effizient vermittelt werden. Dies geschah über Aushänge und andere Texte. Um diese verstehen zu können, mussten die Fabrikarbeiter lesen können. Und so wurde die Bevölkerung in einer enormen Geschwindigkeit, in nur ein bis zwei Generationen, fast durchgehend alphabetisiert. Oder anders ausgedrückt: Die Menschen reagierten auf die zunehmende äußere Komplexität mit einer größeren inneren Komplexität.
Kritisches Denken als essenzielle Kompetenz
Wie also könnte unsere höhere innere Komplexität künftig aussehen, damit wir den neuen Anforderungen der digitalen Kultur gewachsen sind? Für Rosa steht fest, dass die zentrale Kompetenz, die jeder Mensch entwickeln muss, die Fähigkeit zum kritischen Denken ist.
Wie das Lesen in früheren Epochen war das kritische Denken bisher vor allem einer (intellektuellen) Elite vorbehalten. Im Rahmen der zunehmenden Digitalisierung wird sich das laut Rosa ändern müssen. Kritisches Denken muss zu einer „Massenfähigkeit“ werden. Damit meint Rosa nicht, dass jeder künftig eine akademische Bildung braucht. Das kritische Denken sei an keinen Abschluss oder Beruf geknüpft. Es bedeute, dass wir Argumente abwägen und auf ihre Plausibilität hin prüfen und Dinge kritisch hinterfragen können. Und es bedeutet, dass wir für unsere eigenen Filtersysteme verantwortlich sind. Das werde insbesondere im Zeitalter der Fake News und der Nachrichtensteuerung durch Algorithmen immer wichtiger. Man müsse das kritische Denken lernen, „denn“, so Rosa, „wenn ich es nicht selber für mich tue, dann tut es jemand anderes für mich – und das möglicherweise mit negativen Folgen für mich, weil derjenige damit seine eigene Agenda verfolgt.“
Das Lernen und Lehren verändern sich
Im ersten Teil wurde schon klar, wie wichtig kritisches Denken geworden ist. Um dieses zu vermitteln, muss sich das Schulsystem und die Rolle der Lehrkräfte grundlegend verändern. Laut Rosa sollte es nicht mehr darum gehen, Wissen zu vermitteln. Wichtiger sei es, den jungen Menschen dabei zu helfen, das Lernen zu lernen.
Der Lehrer solle nicht mehr als jemand gesehen werden, der mehr weiß als die Schüler und der sein Wissen lediglich vermitteln und weitergeben muss, sondern als jemand, der anderen lediglich zeigen könne, wie sie sich selbst Wissen aneignen und autodidaktisch lernen können. Rosa verwendet hierfür das Bild einer Dschungelexpedition: Der Lehrer sei hierbei nicht der Führer, der mit der Machete vorangeht und den Weg für die Schüler ebnet. Vielmehr erkunde er den Urwald gemeinsam mit den Schülern und sein einziger Wissensvorsprung bestehe darin, dass er den anderen beibringen kann, wie sie ihre Machete benutzen können.
Der Betreuungsschlüssel als zentrales Element
Um dieses Ideal umsetzen zu können, brauche es laut Rosa neben einer guten technologischen Ausstattung der Schulen vor allem eines: einen guten Betreuungsschlüssel: „Wie viel Geld in die Verbesserung des Personalbetreuungsschlüssels investiert wird, ist meiner Meinung nach der wirklich entscheidende Aspekt“, so Rosa. Je niedriger der Betreuungsschlüssel, desto besser könnten die Schüler das Lernen lernen. Denn lernen sei immer etwas sehr Individuelles.
Viel Spaß beim Zuhören!
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